Professor Rechkemmer leitet die wichtigste staatliche Ernährungsforschungseinrichtung mit Hauptsitz in Karlsruhe und einem Jahresetat von 45 Millionen Euro. Die ehemalige Bundesforschungsanstalt für Ernährung und Lebensmittel (jetzt: Max-Rubner-Institut) ist dem Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (BMELV) unterstellt und sollte eigentlich „zum Nutzen des Gemeinwohls“ arbeiten, so die Vorgabe.
Er arbeitet aber auch für Ilsi, die weltweit einflussreichste Lobbyvereinigung der Food-Industrie.
Rechkemmer ist dort in leitender Funktion tätig, als Mitglied des Vorstandes („Board of Directors“). Zudem ist er Mitglied einer "Task Force", die sich der Förderung industrieller Gesundheitsnahrung ("Functional Food") widmet, zusammen mit Vertretern von Red Bull, Mars, Südzucker und anderen.
Die Aktivitäten dieser Vereinigung sind in der Öffentlichkeit kaum bekannt, aber für die Verbraucher von allergrößter Bedeutung. Denn das, was die Industrietruppe beschließt, wird häufig zur Grundlage von Gesetzen und Verordnungen die das Essen betreffen.
Bei der Sicherheitsbewertung von Gentechnik hat die Europäische Lebensmittelsicherheitsbehörde Efsa beispielsweise Passagen aus Ilsi-Stellungnahmen wörtlich übernommen. Bei vielen Efsa-Entscheidungen wirken Ilsi-Experten mit, etwa bei den Unbedenklichkeitserklärungen für den umstrittenen Süßstoff Aspartam.
Bei der Risikobewertung von Nahrungsmitteln und Zusatzstoffen ist Ilsi aktiv, auch bei der Festlegung von Vitamin-Grenzwerten. Was als gesund gilt, was als ungesund, wird von den Lobbyisten aus dieser Organisation maßgeblich beeinflusst.
Präsident Rechkemmer, staatlich solide besoldet, macht die Arbeit für den Industrie-Club unentgeltlich: „Ich bekomme kein Honorar. Die Reisekosten zu den Veranstaltungen werden übernommen.“ Bei manchen Ilsi-Projekten setzt Rechkemmer auch Mitarbeiter seiner Forschungsanstalt ein.
Für die Industrie-Vereinigung ist das praktisch: Sie kann hochrangige Forscher für ihre Interessen arbeiten lassen – und muss nicht einmal dafür bezahlen. Bei Ilsi betreiben die Vertreter des Staates das Geschäft der Industrie. Die Kosten trägt der Steuerzahler.
Ilsi beeinflusst nicht nur den Staat, und lässt den Staat sogar für sich arbeiten. Natürlich stets streng im Interesse der Food-Multis, so wollen es die Statuten.
Ilsi betreibt Lobbyismus in Vollendung, in einer völlig neuen Dimension. Diskret, auf hohem Niveau und in einer bislang nicht gekannten Effizienz – auf der Basis einer scheinbaren wissenschaftlichen Neutralität.
So sieht auch Ilsi-Funktionär Rechkemmer die Ilsi-Aktivitäten ganz neutral: „Ilsi, das ist für mich eine wichtige Informationsquelle. Politik umfassend beraten kann ich nur, wenn ich auch mit der Industrie rede und über die Entwicklungen informiert bin. Ilsi bietet eine Plattform, wo man sich austauschen kann. Die Wissenschaftler aus der Industrie, die bei Ilsi mitarbeiten, sind nicht die Marketingleute, die sind aus der Forschung. Unter Wissenschaftlern kann man sich da gut austauschen.“
Rechkemmer ist dabei allerdings nicht nur teilnehmender Beobachter, sondern auch aktiver Funktionsträger: Er leitete beispielsweise als „Overall Chair“ ein mehrtägiges Ilsi-Symposium im Oktober 2011 im Hilton Hotel in Prag. Thema: Der Gesundheitsnutzen der Lebensmittel. Von Fortschritten in der Wissenschaft zu innovativen Produkten.
Die industriellen Interessen stehen bei Ilsi natürlich stets im Vordergrund;
auf der Basis der scheinbaren wissenschaftlichen Neutralität hat Ilsi den Industrie-Positionen zu Dominanz verholfen.
Ilsi ist die maßgebliche Instanz bei zentralen Festlegungen, die alle Verbraucher betreffen: Beispielsweise über den Bedarf an Nährstoffen als Basis für Ernährungsempfehlungen (Projekt-Kürzel: EURRECA). Ilsi hat auch übernommen, als die Europäische Kommission eine konzentrierte Aktion zur Lebensmittelsicherheit in Europa gestartet hat (Food Safety in Europe, FOSIE).
Ilsi ist in der Europäischen Union auch zuständig für die Risikoeinschätzung zu Schadstoffen in der Nahrung und die Risiko-Nutzen-Abwägung (Benefit-Risk Analysis of Foods, BRAFO). Alles finanziert von der Europäischen Union.
So hat Ilsi die Institutionen längst durchsetzt.
Vor allem die europäische Lebensmittelsicherheitsbehörde Efsa bedient sich häufig der Expertise aus der Wirtschaft, etwa bei der Sicherheitsbewertung von Gentechnik. Ilsi hat auch die Bedingungen für das Efsa-Prüfverfahren zur Bewertung von Gesundheitsbehauptungen für Nahrungsmittel wie Actimel oder Becel pro.activ entwickelt, sozusagen die eigenen Spielregeln für die sogenannten „Health Claims“ aufgestellt. PASSCLAIM hieß das Projekt.
Ilsi ist die Hohe Schule der Einflussnahme. Ilsi hat die Grenzen aufgehoben zwischen den Sphären der Macht. Und Ilsis Einfluss reicht weit über Europas Grenzen hinaus. Es bildet ein weltumspannendes Netz. Es gibt nicht nur Ilsi Europa. Es gibt Ilsi in Nordamerika und Ilsi in Argentinien, Ilsi in Brasilien und Mexiko, den Nordanden und den Südanden, Ilsi für Nordafrika und die Golfregion, Ilsi für Südafrika. Praktisch jeder Flecken auf der Welt, wo es Lebensmittel gibt von Coca-Cola, Kraft und Unilever, wird von Ilsi-Netzwerken abgedeckt. Ilsi hat Südostasien im Griff, auch Japan, Korea, und hat auch schon eine Niederlassung in China.
Mehr dazu:
Hans-Ulrich Grimm
Vom Verzehr wird abgeraten.
Wie uns die Industrie mit Gesundheitsnahrung krank macht
Droemer Verlag
320 Seiten Klappenbroschur € 18,00
ISBN 3-426-27556-2
ISBN 978-3-426-27556-6