Über dem See hängen dicke graue Wolken, Angler warten in ihren Booten auf Glück. Drinnen, in großen grünen Becken, drehen Fische zu hunderten ihre Runden - zu Forschungszwecken. Manche sehen ein bisschen verkrüppelt aus. ?Das kommt immer wieder vor?, sagt Ulrich Lehmann, der Chef der Fischzuchtanlage Faulensee am Thuner See im schweizerischen Kanton Bern.
In letzter Zeit allerdings hat es extreme und auch mysteriöse Veränderungern gegeben, an den Geschlechtsteilen, und zwar bei durchschnittlich 40 Prozent der Felchen, bei manchen Fängen bis zu 95 Prozent. Solch drastische Deformationen in solcher Zahl hat es bisher nirgendwo gegeben.
Die Fische in den Becken sind Teil eines Forschungsprojekts, das Aufklärung bringen soll über die Gründe der merkwürdigen Missbildungen. Und das ist wichtig weit über die Schweiz hinaus. Denn bedenkliche Veränderungen gibt es überall auf der Welt.
Transsexuelle Fische gingen auch in England ins Netz, unterhalb von Kläranlagen. In Japan hatten Flunder-Männchen plötzlich weibliche Eier. Bei Barschen in hessischen Yachthäfen waren die Hoden bizarr vergrößert - ein Umstand, der auf einen Stoff namens Tributylzinn (TBT) zurückgeführt wird. Der Stoff dient als Antifoulingmittel bei Schiffsanstrichen, findet sich aber auch in Fischbüchsen, Fußballtrikots, Kartoffeln und sogar Pampers.
Solche Stoffe sind es, die zu den Veränderungen in den Fortpflanzungsorganen führen können - bei Fischen, und auch bei Menschen. Das Thema sorgt neuerdings bei Forschern für wachsende Aufregung. Denn wenn die Fortpflanzung gestört wird, steht viel auf dem Spiel - in letzter Konsequenz der Fortbestand der Menschheit.
Diese Stoffe sind heimtückischer als herkömmliche Gifte: . ?Die hormonaktiven Chemikalien stören das Signalsystem des Körpers?, sagt der Lübecker Hormonforscher (?Endokrinologe?) Professor Achim Peters: ?die Körpervorgänge können dadurch entgleisen ? selbst bei winzigsten Mengen?. Der Körper wird gewissermaßen mit seinen eigenen Lenksystemen in die Irre geführt.
In den letzen Jahren wurden solche Stoffe vermehrt gefunden, in Babyschnullern etwa, in sogenannten Scoubidou-Bändern, und vor allem in Lebensmitteln.
Das Chemische und Veterinäruntersuchungsamt Stuttgart will jetzt die Belastung von Kindern unter drei Jahren klären. Das Amt hat in manchen Gläsern, etwa mit Pesto oder Gemüse, in bis zu 80 Prozent der Proben besorgniserregend hohe Konzentration gefunden. Ähnliche Funde gab es in Hamburg und Nordrhein-Westfalen, betroffen waren zumeist Tomatengläser, Mischpilze, Olivenpaste. In Dänemark sind Glaskonserven vom Markt genommen worden, weil sie die europaweit gültigen Grenzwerte um das 50- bis 60fache überschritten hatten.
Ein Team um den Toxikologen Jürgen Angerer von der Universität Erlangen hat festgestellt, dass bei einigen dieser Stoffe, den sogenannten Phthalaten, die Konzentration im Blut zehnmal höher ist als bisher gedacht. Kinder waren sogar doppelt so hoch belastet wie die Erwachsenen. ?Diese Studien sind ein Alarmsignal,? sagt Angerer. Denn von diesen Chemikalien werden mehrere Millionen Tonnen jährlich weltweit produziert.
Wenn Fett und Öl mit den hormonell wirksamen Weichmachern in Kontakt kommen, wandern die Stoffe in die Lebensmittel: ?Das kann da ganz leicht rausschwimmen?, sagt Werner Altkofer, Abteilungsleiter im Stuttgarter Untersuchungsamt.
In der Schweiz wird das Phänomen jetzt gründlich untersucht, in einem 16-Millionen-Franken-Forschungsprogramm (?NRP 50?). Eines der Projekte beschäftigt sich mit den mysteriösen Vorgängen bei den Fischen im Thuner See. Bisher ist völlig unklar, welche Stoffe zu den Veränderungen geführt haben. Im Verdacht stehen viele: 553 einschlägige Chemikalien enthält eine Liste des EU-Projekts ?Credo? (?Cluster of Research on Endocrine Disruptors in Europe?).
Die Auswirkungen sind weitreichend. So findet die Pubertät immer früher statt - und wird nach Ansicht deutscher Wissenschaftler bei Mädchen bald mit neun Jahren beginnen. In Deutschland hat sich die Hodenkrebsrate seit 1980 verdoppelt. Auch der Prostatakrebs nimmt zu, vor allem bei jüngeren Männern. Auch die Spermaqualität lässt weithin zu wünschen übrig. Nach Erkenntnissen des dänischen Wissenschaftlers Niels Skakkebaek sank beim Durchschnittseuropäer die Zahl der Spermien von 1940 bis 1990 um die Hälfte, von 113 Millionen pro Milliliter Samenflüssigkeit auf gerade noch 66 Millionen.
Bei 188 Männern, die mit unerfülltem Kinderwunsch in eine amerikanische Klinik kamen, war, wie ein Forscherteam der amerikanischen Harvard School of Public Health herausfand, die Spermakonzentration umso geringer, je höher die Belastung mit den sogenannten Phthalaten war.
?Deswegen hat man solchen Respekt vor dem Zeug?, sagt die Zürcher Forscherin Margret Schlumpf, die hormonell wirksame Stoffe in Sonnenschutzmitteln gefunden hat. ?Es bedrückt mich?, sagt Frau Schlumpf, die eigentlich eine lustige Person ist und dies aber so gar nicht zum Lachen findet: ?Vor allem im Hinblick auf den Fortbestand der Menschheit.?
Wer die Belastung verringern möchte, kann auf unverpackte Frischware vom Markt ausweichen: So meidet man wenigstens die Hormonchemikalien in der Verpackung. Auch sind Bio-Lebensmittel geringer kontaminiert. Zwar können auch Bio-Glaskonserven Hormonchemikalien enthalten. Doch sie enthalten weniger - ebenfalls oft hormonell wirksame - Pestizide.
Vielleicht liegt es daran, dass Bio-Köstler, dänischen Untersuchungen zufolge, bei der Spermaqualität vorn lagen. Österreichischen Untersuchungen zufolge steigert Bio-Kost auch die Fruchtbarkeit, jedenfalls bei Ratten, Kaninchern, Hühnern und Zuchtstieren.
Die Felchen von Thunersee haben bislang noch keine Fortpflanzungsprobleme. Auch seien sie, bedenkenlos genießbar, so sagen die Behörden. Die Ergebnisse der Hormon-Untersuchungen stehen allerdings noch aus. Noch kreisen die jungen Fische in den großen grünen Becken, schwimmen der Pubertät entgegen - und vielleicht der Aufklärung des Menschengeschlechts in lebenswichtigen Fragen.