Die WHO-Chefin verglich die mächtigen Nahrungs-Multis mit den Tabakkonzernen. Es gehe nicht mehr nur gegen „Big Tobacco“. Das globale Gesundheitswesen muss sich nun auch gegen „Big Food“, „Big Soda“ und „Big Alcohol“ behaupten. Deren Produkte, von Fertignahrung über Fast Food bis zu Soft Drinks, geraten nun ebenso ins Visier der Weltorganisation wie bisher die schädlichen Folgen des Rauchens.
Es geht um die sogenannten nicht übertragbaren Krankheiten wie die Zuckerkrankheit Diabetes, Krebs, Alzheimer, an denen weltweit 35 Millionen Menschen pro Jahr sterben sollen.
Eine der wesentlichen Herausforderungen im Kampf gegen die Zivilisations-Krankheiten unserer Gesellschaft sei es daher, den Einfluss der Foodkonzerne auf Gesetze und Bestimmungen in der Ernährungspolitik zu überwinden, sagte sie bei einer Konferenz vorigen Monat in Finnland. Die WHO-Chefin warnte auch ihre eigene Organisation vor der Einmischung der Lebensmittelindustrie in die Gesundheitspolitik: „Die Bemühungen zur Überwindung der nicht übertragbaren Krankheiten gehen gegen Firmeninteressen. Und das sind mächtige Wirtschafts-Unternehmen.“
Sie alle nutzten dieselben einschlägig bekannten Taktiken, um sich vor Regulationen zu schützen, so Chan: Imagekampagnen, Lobbyarbeit und Alibigesellschaften, Versprechen zu Selbstverpflichtungen, Klagen und Gerichtsverfahren, industriefinanzierte Forschung sowie Geschenke und unangemessenen Fördergeldern. Vor diesen Strategien warnte sie die etwa 800 Teilnehmer der Konferenz in Helsinki, darunter Regierungsmitglieder, Vertreter weltweiter Gesundheitsorganisationen, Repräsentanten aus Zivilgesellschaft, Stiftungen und Finanzinstituten.
Bisher hat die Weltgesundheitsorganisation mit der Nahrungsindustrie und ihren Lobbyorganisationen eng zusammengearbeitet. Sie ließ sich sogar sponsern, von Coca-Cola, von Nestlé und Unilever, der Zucker-Lobbytruppe World Sugar Research Organisation (WSRO), oder jener Lobbytruppe, die weltweit operiert im Auftrag von Firmen wie Coca-Cola, Pepsi- Cola, Südzucker, Red Bull: dem »International Life Sciences Institute«.
Vertreter von Big Food leiteten Arbeitsgruppen bei WHO-Konferenzen. Zuweilen durften bei wichtigen Tagungen sogar Lobby-Funktionäre als offizielle WHO-Vertreter agieren – als Under-Cover-Agenten der Food-Industrie sozusagen.
Mit ihrer Kurswende reagiert die WHO Chefin auf wachsende internationale Kritik, von Nichtregierungsorganisationen, aber auch aus der Weltgesundheitsorganisation selbst.
Die Kritiker sehen seit langem die Gefahr, dass die Zusammenarbeit mit solchen Partnern eher die Geschäfte fördert und weniger die Weltgesundheit. Schon ihre Produkte fördern ja nicht direkt die Weltgesundheit, meint etwa Professor David Stuckler von der Universität im britischen Cambridge, Mitglied einer Autorengruppe des Mediziner-Fachblatts The Lancet, die sich mit den neuen Massenkrankheiten beschäftigt (»NCD Action Group«). Die Autorengruppe aus renommierten Wissenschaftlern empfahl, »einen klaren ethischen Rahmen« zu verabschieden, um »Interessenkonflikte« zu identifizieren, wenn es um die Bekämpfung von solchen Krankheiten geht.
Die Einbeziehung der Food-Lobby in die Politik sei kontraproduktiv, meint auch Jorge Alday, von der World Lung Foundation: »Es ist, wie wenn man Graf Dracula in der Blutbank als Sicherheitsberater einstellen würde.«
Professor Boyd Swinburn, Direktor des WHO Collaborating Centre for Obesity Prevention an der Deakin University im australischen Melbourne, kritisiert die Partnerschaften, weil sie zu fehlgeleiteten Gesundheitsstrategien führten – ganz im Sinne der Quartalsbilanzen – und die »Ausgaben für Behandlungen bevorzugten, anstatt ihre Ursachen zu bekämpfen«. Sie »fördern so das Wirtschaftswachstum«, aber führten zur »Blockierung guter Präventionsmaßnahmen«.
Solche Partnerschaften seien »zum Scheitern verurteilt« prophezeit daher die New Yorker Ernährungswissenschaftlerin Marion Nestle in einem Aufsatz mit dem Cambridge-Professor Stuckler. Die Motive der Zusammenarbeit auf Seiten der Industrie seien völlig klar: »Jede Partnerschaft muss Gewinn bringen für die Industrie, die den gesetzlichen Auftrag hat, Reichtum für ihre Aktionäre zu maximieren.« Weil die Industrie ihren »Profit aus ungesunder Nahrung« beziehe, sei ein Vorteil für die Volksgesundheit durch eine Zusammenarbeit nicht zu erwarten.
Doch die deutsche Regierung fährt weiter Schmusekurs. So ist Verbraucherministerin Ilse Aigners oberster Ernährungsforscher, Professor Gerhard Rechkemmer, der Präsident des Bundesforschungsinstituts für Ernährung und Lebensmittel, zugleich hoher Funktionär einer Lobbyorganisation der Food-Industrie, die von Firmen wie Coca-Cola, Red Bull, Nestlé und Monsanto getragen wird, dem International Life Sciences Institute Europe (Ilsi).
Und Politik und Industrie haben sich verbündet in einer gemeinsamen Organisation, der sogenannten Plattform Ernährung und Bewegung (peb). Offizielles Ziel: der Kampf gegen das Übergewicht bei Kindern.
Die Plattform "bündelt" nach eigener Darstellung "eine Vielzahl gesellschaftlicher Kräfte, die sich aktiv für eine ausgewogene Ernährung" sowie "Bewegung" und "Entspannung" einsetzen, darunter Konzerne wie Coca Cola, Unilever, Danone oder McDonalds, Seite an Seite mit der Ernährungsfachgesellschaft DGE und dem Verband der Ökotrophologen VDOe, initiiert vom Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft.
Die „Plattform“ ist Partner der Initiative IN FORM - einem Nationalen Aktionsplan der Bundesregierung zur Verbesserung des Ernährungs- und Bewegungsverhaltens in Deutschland, mit dem die Ziele der WHO im weltweiten Kampf gegen die Zivilisationskrankheiten auf nationaler Ebene umgesetzt werden sollen.
Wenn allerdings die Food-Industrie so tatkräftig mitwirken darf im Kampf gegen die Krankheiten, die sie verursacht hat, werden die Erfolge auf sich warten lassen, fürchten die Kritiker. Dass die Lobby so ihre Ziele verfolgt, ist natürlich ihr gutes Recht. Es sei nur die Frage, ob die Politik dieser Strategie auf den Leim gehen sollte, meint etwa Robert Beaglehole, Vorsitzender der Koalition für ein rauchfreies Neuseeland und ehemaliger Direktor für Chronische Krankheiten und Gesundheitsförderung bei der WHO in Genf: »Ich bin nicht gegen Lobbyarbeit«, sagt Beaglehole: »Ich bin nur dagegen, wenn die Regierungen sie ernst nehmen.«
Mehr über die Unterwanderungsstrategien von Big Food:
Hans-Ulrich Grimm
Garantiert gesundheitsgefährdend. Wie uns die Zuckermafia krank macht.
Droemer Verlag 304 S. € 18,00
ISBN: 978-3-426-27588-7