Das Krankenhaus liegt in einem Außenbezirk im Pekinger Osten, eine Stunde vom Stadtzentrum entfernt. In der Umgebung ältere Wohnblocks, am Eingang Palmen in Kübeln und zwei mannsgroße Porzellanvasen, der Laie würde sagen: Ming Dynastie. Am Empfang hübsche Schwestern mit weißer Tracht und anmutigen Häubchen. Fotos von internationalen Konferenzen mit renommierten amerikanischen Spezialisten. Das Beijing Chaoyang Diabetes Hospital hat einen guten Ruf, es wurde zur besten Diabetes-Klinik Chinas gewählt.
"Diabetes ist bei uns ein neues Problem", sagt die Oberärztin Ying Wang "Und es wird ein immer größeres." Vor 20 Jahren habe es kaum Zuckerkranke gegeben, heute sei China mit Indien bei den Zuwachsraten führend. Bis zu 20.000 Patienten haben sie hier im Hospital pro Jahr.
Frau Doktor Wang ist eine kleine, resolute Frau mit Brille, blauem Arztkittel. "Früher gab es bei uns nicht so viele Patienten mit Diabetes. Doch das Lebensniveau ist gestiegen, und so gibt es mehr Fleisch und Süßigkeiten", sagt die Oberärztin. Klar, das man damit dick werden kann und das Risiko steigt.
Doch merkwürdigerweise ist schon die erste Patientin, die wir besuchen, überhaupt nicht dick. Irgendetwas kann mit den üblichen Theorien über die Risikofaktoren nicht stimmen.
Frau Shen, Zimmer 20, ist sogar eher schlank. Sie ist Lehrerin in der Inneren Mongolei, in der Hauptstadt Hohhot, einer von 125 Millionenstädten in China. Sie sitzt aufrecht im Bett, mit weiß-blau gestreifter Polobluse. Ihr Mann ist auch dabei. Der Fernseher läuft, Kanal 8 des chinesischen Staatsfernsehens CCTV. Nebenher liest Frau Shen ein Buch.
Die Hälfte der Patienten kommen aus allen Teilen Chinas, die anderen aus Peking.
"Ich hatte ein Herzproblem", sagt Frau Shen, dabei wurde Diabetes festgstellt. Gestern kam sie, eine Woche muss sie bleiben.
In Zimmer 4 liegt, auch nicht dick, Frau Liu aus der Provinz Hebei, 300 Kilometer von hier. Ihr Fuß ist verbunden, die Ärzte haben ihn mit chinesischen Kräutertinkturen behandelt. Sie konnte kaum noch gehen: "Nach höchstens zehn Metern muste ich immer Pause machen." Fußleiden sind ganz typsch bei dieser Krankheit, häufig muss amputiert werden.
Frau Liu ist Arbeiterin und damit hier eher eine Ausnahme.
Typischer sind Leute wie Herr Zhang in Zimmer 1. Herr Zhang ist Chef. So wird er vorgestellt: Chef einer Baufirma mit 1000 Leuten. Blumen im Zimmer, rechts in der Ecke: Sie stammen von seinen Angestellten.
Er liegt mit blankem Bauch und der einheitlichen blau-weiß-grau gestreiften Schlafanzughose im Bett. Später zieht er sich dann das Pyjama-Oberteil über.
Zhang wiegt 90 Kilo bei 1,75 Meter Körpergröße und zählt damit zu den dicksten hier. Die Pfunde sind zemlich gleichmäßig verteilt - auch das ein Verstoß gegen die üblichen Risikotheorien: normalerweise gilt ein dicker Wabbelbauch als Risikofaktor. "Waist-Hip-Ratio", heißt das im Spezialisten-Englisch, zu Deutsch: Eine dicke Wampe steigert das Risiko. Die hat Herr Zhang zweifellos nicht. Er sieht ganz einfach wohlgenährt aus.
46 Jahre alt ist er, und ein Erfolgsmensch. Er fährt einen Audis A6, und er träumt, sagt er lachend, von einem noch fetteren BMW. Viel Stress habe er gehabt, sagt er.
Solche Leute seien hier typisch, sagt die Oberärztin. Im Nebenbett liegt auch so einer: Herr Dang, 43, Bankdirektor aus Peking. Er ist nun gar nicht dick, 77 Kilo bei 1,77 Meter. Doch auch er hat viel Stress im Beruf.
"Diabetes ist bei uns eine Krankheit der Chefs", sagt Oberärztin Wang. "Die einfachen Bauern kriegen sie eher selten. Die meisten Patienten bei uns sind Erfolgsmenschen. Das ist eine sehr moderne Krankheit."
Sie führt das auf den Stress der Erfolgsmenschen zurück.
Was soll aber Stress mit Zuckerkrankheit zu tun haben? Mögliche Erklärung: Der Stress führt dazu, das die Leute nichts Gescheites mehr essen.
Auf der Homepage der Klinik ist von der "Western Diet" als Risikofaktor die Rede: So heißt im Spezialisten-Englisch das Nahrungs-Sortiment der Industrienationen. Industriell produzierte Nahrung, viel Rindfleisch, Lebensmittel-Zusatzstoffe, Junk Food, Fast Food, Snacks. Und natürlich die industriell hergestellten, "raffinierten" Kohlenhydrate.
Kann sein, dass die Erfolgsmenschen davon mehr zu sich nehmen, als gut ist, und doch zu wenig, um richtig fett zu werden. Sie sind relativ schlank und doch krank.
Nahrung, die krank macht, kann die Zukunft nicht sein. Das ist das vorläufige Fazit der Recherche hier in China. Weniger Stress ist auch wichtig. Ich lege mich jetzt erstmal an den Strand.