Von diesem neuen Trend habe ich zum ersten mal auf einer Messe erfahren, auf der Firmen wie Knorr oder Dr. Oetker sich an Gastronomen und Kantinenbesitzer wenden.
Eine große Messe ist sie schon, die Intergastra. Obwohl sie sich nur an ein ausgewähltes Publikum wendet. An eine geschlossene Gesellschaft geradezu: die Gastronomen. Über die Regeln dieser ehrenwerten Gesellschaft hatte ich mir vor dem Besuch der Messe keinerlei Gedanken gemacht. Mich interessierten ihre Produkte. Was kauft der Gastwirt auf der Fachmesse? Was gibt es morgen in der Kantine? Und im ICE-Zugrestaurant? Und wie gesund ist das?
Gespannt durchquere ich den Eingang zum Messeschauraum.
Und ich werde nicht eintäuscht: Mit einem Flammenwerfer beginnt das Spektakel. Gerade den Zucker auf der Crème brûlée frisch flambiert, verführt mich ein Mann im Kochkostüm zum Probieren. „Alles in einem Pulver, nur mit kalter Milch anrühren, Zucker drauf, flambieren und fertig!“
Gerade vor ein paar Monaten hatte ich meine erste Crème brûlée gegessen. Das war in einer Kindersendung im Fernsehen, zu der ich eingeladen war. Dort hatten Kinder, die „Miniköche“, das klassische Dessert zubereitet: 8-bis 12jährige Kids, die statt Klavierunterricht eine Art kindgerechte Kochausbildung kriegen, in wöchentlichen Häppchen.
Süß waren sie anzusehen in ihrer blütenweißen Uniform. Als ich sie nach dem Rezept fragte, kam die Antwort im Einklang aus fünf strahlenden Gesichtern und klang wie ein Gedicht: Ein halber Liter Sahne, ein halber Liter Milch, zwei Eier, zwei Eigelb, fünf Vanillestangen und 150 Gramm Zucker.
Kinderkram.
An jenem Messestand bieten sie den Wirten eine ganz andere Crème brûlée an. Schnell herzustellen, ganz ohne die wahre Kunst der Köche. So kann jeder Wirt, auch ohne Kochkenntnisse, in seiner Kneipe, im Eiscafe oder gar in seiner Pilsbar das neumodische „Muss“ neben Tiramisu und Mousse au Chocolate anbieten - trendy zu lesen in jeder Speisekarte.
Dass er Chemie einsetzt statt Kochkunst, darf die Speisekarte dann aber verschweigen. Darauf war der Verkäufer ganz besonders stolz „Und das Beste:“ strahlte der als Koch kostümierte Mann am Stand, der mich offensichtlich für eine Großküchenkollegin hielt: „Unsere Emulgatoren müssen Sie für den Gast nichtmal deklarieren.“ Absolute Begeisterung in seinem frischgestylten Messegesicht.
Absolutes Fragezeichen in meinem Gesicht: „Wie bitte? Gast? Nicht deklarieren?“ Achja, er denkt, ich hätte ein Restaurant, ein Cafe, auf jeden Fall eine Speisekarte und wähnt mich ganz auf seiner Seite. Hier lerne ich eine wichtige Regel dieser eingeschworenen Gesellschaft: chemische Küchenhilfen sind gut, vor allem, wenn der Gast nichts merkt.
Clean label nennt der moderne Mensch aus der Nahrungsbranche den mitreißenden Trend, wie mir später eine männliche Messehostesse an einem Stand für Gewürzmischungen für Thaigemüse ohne deklarationspflichtige Zusatzstoffe erläutert. Das sei quasi die gastronomische Antwort auf den Wohlfühlwunsch des Konsumenten. „Die wollen ein gutes Gefühl, natürliches Essen, die wollen keine Zusatzstoffe.“
So langsam hat mein Denkapparat Schritt gefasst. Es geht nicht darum was drin ist, sondern was draufsteht. Das gute Gefühl bekommt der Verbraucher durch ein sauberes Etikett. Ein weiße Weste für die Speisekarte quasi.
Ebenfalls in weißer Wäsche brutzeln Köche am Messestand von „Unilever Food Solutions“ verführerisch Duftendes. Kleine Plastiknäpfe im Asia-Style präsentieren die neue Dimension der edel auftretenden Gastroprodukte. Smarte Herren in teuren Anzügen und mit vollem Terminkalender führen die Beratungsgespräche. Und preisen ihre Produkte an, die Knorr Pure Linie zum Beispiel. „o.d.Z." - „Ohne deklarationspflichtige Zusatzstoffe" steht auf dem Bratenjus in der 1,4 kg Packung, Knorr Demiglace oder 10 Liter Eimer Knorr Currysauce, kaltquellend. Aber leider keines ohne Hefeextrakt, das getarnte Glutamat mit gleicher Wirkung. Aber laut Gesetz (§ 9 ZzulV) bleibt die Speisekarte so verschont vom unattraktiven Wort „Geschmacksverstärker“. „Damit nur das Wesentliche auf der Speisekarte steht!“ erklärt die Firma Unilever Food Solutions in ihrem
Internetauftritt
Chemie inkognito. “Clean Label” heißt also nur, dass das Etikett von Chemie gesäubert wurde, nicht aber das Produkt. Pech natürlich, wenn jemand aus gesundheitlichen Gründen natürliches Essen bevorzugt. Oder bevorzugen muss, auf ärztliches Anraten.
Wie jene Bekannte mit Magen-Darmkrebs, vom Arzt angewiesen, ihrem Darm zuliebe alle Emulgatoren und Konservierungsstoffe zu meiden. Sie erzählte mir von ihrem Lieblingsfruchtquark aus dem Supermarkt. Ganz ohne Konservierungsstoffe, steht sogar drauf. So ein cremiger Quark mit glänzend frischer Fruchtsauce oben drauf. Leider waren trotzdem Konservierungsstoffe drin, in der Fruchtsauce, nicht deklarierungspflichtig.
Damals musste man die Einzelbestandteile von zusammengesetzten Zutaten wie Saucen, Gewürzmischungen, Fruchtuzubereitungen nicht angeben, wenn sie weniger als 25 Prozent des Endproduktes ausmachten.
Den Allergikern zuliebe hat man die Regel dann verschärft: Wenn eine solche Zutat weniger als zwei Prozent ausmacht, müssen die Bestandteile nicht ausgewiesen werden. Leider hilft das den Allergikern nicht unbedingt: Denn für eine allergische Reaktion reichen schon wenige Moleküle aus. So können auch Zusatzstoffe aus zwei Prozent Würzmischung einen lebenbedrohlichen Allergieschock zur Folge haben.
Dumm für Allergiker: gerade das Clean-Label-Zeitalter bringt neue kritische Zutaten auf den Tisch. Heimliche Ingredenzien mit sichtbaren Folgen: Asthma, Bindehautentzündung oder juckende Ekzeme.
Sie heißen Xylanase, Alpha-Amylase - nein, das sind keine fremden Galaxien. Das sind diese Zutaten, sogenannte Enzyme, quasi die Handwerkzeuge der Natur. Sie dienen zum Kleinschneiden von Nahrungsstoffen, manche zum Zusammenkleben. Enzyme sind die neuen Wundermittel der Nahrungsindustrie.
Back-Enzyme wie etwa Xylanase und Alpha-Amylase verändern den Teig, erleichtern den Maschinen in der Backfabrik das Kneten, pusten die Brötchen auf und machen eine schöne braune Kruste. Und sie machen die Bäckergenossenschaften nervös, weil sie nebenbei massenhaft für meldepflichtige Asthmaanfälle und Hautausschläge bei den Angestellten sorgen. Das fand ein Bochumer Medizinprofessor namens Xaver Baur schon vor 20 Jahren heraus.
Für die Clean-Label-Bewegung sind die Enzyme ideal, denn sie müssen generell nicht auf dem Etikett oder der Speisekarte engegeben werden. Und nicht nur Emulgator wird eingespart, auch Geld: „Die Zugabemengen von synthetischen Emulgatoren zu reduzieren und somit die Kosten zu senken“ heißt das Ziel der Firma mit dem schönen Namen „Mühlenchemie“.
Alphamalt EFX Mega heißt der neueste Mehlzusatz und Weizenverwandler, ein Produkt der Mühlenchemiker. „Ähnlich einem aufblasbarern Kaugummi“, so die Mühlenchemie in ihrem Online-Auftritt, legen sich „die modifizierten Weizenproteine“ in einem „stabilen, elastischen Film“ dann um die „Gasblasen“ und führen zu „einem gesteigerten Gashaltevermögen des Teiges“. Und das alles, weil das führende Alpha-Enzym im Teig selber eine kleine Emulgatorfabrik baut und dort selbst die sogenannten Mono- und Diglyceride erzeugt, jene Emulgatoren, von den Chemie-Bäckern sonst zugefügt wurden. (Ein richtiger Bäcker braucht gar keine Emulgatoren, aber dann muss er kneten, kneten und nochmals kneten - leider viel zu teuer!)
»Wir helfen den Firmen, ihre Etiketten zu säubern«, verspricht auch Kent Snyder, ein Top-Manager der amerikanischen Firma Senomyx. Sie haben einen Stoff zur Geschmacksmanipulation entwickelt, der nach nichts schmeckt, aber den Eindruck von süß oder salzig verstärkt. Was für ein Zaubertrick! Aber noch magischer ist es, dass der Stoff ohne Geschmack auch unsichtbar ist: niemand kann ihn auf dem Etikett sehen. Vorteile sehen aber Kraft Foods, Nestlé, Coca-Cola und Campbell Suppen. Laut New York Times haben sie bereits Verträge mit den Geschmacks-Gauklern von Senomyx.
Zaubertricks, Fabriken im Brötchen und Tipp-Ex-Attacken auf dem Etikett. So aufregend erscheint die Antwort der modernen Lebensmittelhersteller auf den Verbraucherwunsch nach echtem Essen. Nur das echte Essen geben sie uns nicht. Pfff...unter sauberen Etiketten habe ich mir wirklich etwa anderes vorgestellt.
Da denke ich lieber an die schönen Stunden mit den fleißigen Miniköchen und ihrem Eifer, mit dem sie die Spätzle schaben lernen und die kindliche Mühe, mit der sie die Eier für den Nachtisch schlagen.
Wenn die Profis schon auf der schiefen Bahn sind und sich dem Tricksen und Täuschen verschrieben haben, lernen wenigstens die Kinder die wahre Kochkunst.
Das gibt ja Hoffnung für die Zukunft. Wenn sie später, als Maxi-Köche, ihre weiße Weste anbehalten.