Für ihre Studie maß das Forscherteam um Swan die Phtalatkonzentration im Urin von schwangeren Frauen und ermittelte später über Fragebögen die Veränderungen im Spiel-Verhalten derer Kinder als sie zwischen dreieinhalb und sechseinhalb Jahre alt waren. Untersucht wurden 74 Jungen und 71 Mädchen.
Die Wissenschaftler konnten zeigen, dass zwei der Plastikhormone besonders wirksam waren: Di(2-ethylhexyl) Phthalat (DEHP) und Dibutyl Phthalat (DBP). Die Jungs, die im Mutterleib die meisten dieser Phtalate abbekommen hatten, spielten später deutlich weniger männliche Spiele, seltener mit Pistolen oder imitierten seltener Schießereien als kleine Jungs es üblicherweise tun. Sie wählten eher geschlechtsneutrale Spiele wie etwa puzzlen oder Sportspiele. Das Verhalten der Mädchen wurde von den Umweltgiften offenbar nicht beeinflusst.
Shanna Swan erforscht seit Jahren die Wirkungen der Hormone aus Nahrung und Umwelt. Sie hatte schon 2002 herausgefunden, dass die Spermaqualität bei Männern im ländlichen Raum deutlich schlechter war als bei Städtern - und dies auf die hormonellen Effekte von Pestiziden in der Landwirtschaft zurückgeführt.
Für Aufsehen hatte auch eine Untersuchung geführt, die sie 2007 im Fachblatt Human Reproduction veröffentlichte. Ergebnis: Je mehr Hamburger amerikanische Mütter essen, desto schlechter wird die Spermienqualität ihrer Söhne. Ursache: Die Hormon-Mast der US-Rinder.
Die US-Chemieindustrie attackierte die neue Studie der Hormonforscherin: Steve Risotto, Sprecher der Amerikanischen Plastikindustrie, wirft Swan methodische Mängel vor. In einer Video-Botschaft auf der Internetseite des American Chemistry Council (ACC) kritisiert er die Swan-Studie und verwies auf einschlägige Urteile amerikanischer und europäischer Behörden. „Phtalate sind sicher“, meint Risotto.
Von den so genannten Phthalaten werden mehrere Millionen Tonnen pro Jahr eingesetzt. Sie finden sich immer wieder in Lebensmitteln, sogar in Babygläschen.
In den Medien tauchen sie unter dem harmlosen Titel »Weichmacher« auf.
Nach einer Untersuchung der University of Rochester im US-Bundesstaat New York aus dem Jahr 2007 können diese Phthalate auch den Testosteronwert bei Männern um 22 Prozent senken.
Auch Professor Jürgen Angerer, Hormonforscher der Universität Erlangen-Nürnberg, schätzt die Lage als bedenklich ein: Nach mehreren Untersuchungen seiner Forschergruppe sind die Menschen hierzulande erheblich mehr belastet als bisher gedacht. Angerer hat festgestellt, dass die Leute in Deutschland von diesen hormonaktiven Kunststoffen zehnmal mehr aufnehmen als bisher angenommen. Die empfohlene Maximaldosis beträgt in der EU 37 Mikrogramm pro Kilo Körpergewicht, der gemessene Spitzenwert lag bei 166 Mikrogramm. »Diese Studien sind ein Alarmsignal,« sagt Angerer.
Nach einer 2007 veröffentlichten Studie des Umweltbundesamtes (»Kinder-Umwelt-Survey«, kurz KuS) wurden bei allen untersuchten Kindern Phthalate im Blut nachgewiesen, teilweise in bedenklichen Mengen.
Schon die Frühchen sind gefährdet, die mit ein paar hundert Gramm Körpergewicht auf die Welt kommen und im so genannten Brutkasten ihre ersten Tage verbringen. Die Infusionsschläuche, die der Beatmung und der Ernährung dienen, enthalten den Weichmacher DEHP. Nach einer Studie des Bundes für Umwelt und Naturschutz und der Gesundheitsorganisation Health Care waren von 40 Produkten alle bis auf eines belastet.
Nach neuen Untersuchungen müssen Phthalate auch zu den unheimlichen Dickmachern gezählt werden, wie Forscher vom New Yorker Mount-Sinai-Hospital 2009 herausfanden. Und nicht nur das: sie können, so eine Studie von 2007 der University of Rochester im US-Bundesstaat New York, zudem bei Diabetes eine Rolle spielen. Bei den untersuchten Männern fanden die Forscher einen »statistisch signifikanten Zusammenhang« zwischen Phthalat-Belastung und »Übergewicht im Bauchbereich sowie Insulinresistenz.«
Sie befürchten daher, »dass es einen Zusammenhang gibt zwischen der Belastung mit diesen Phthalaten und der zunehmenden Ausbreitung des Übergewichts«, auch mit der Zuckerkrankheit und den damit zusammenhängenden anderen »klinischen Störungen.«
Die Phtalate dienen in der chemischen Industrie unter anderem dazu, die Härte und Zähigkeit von PVC Plastik zu regulieren. Weich-PVC enthält bis zu 40 Prozent Weichmacher, sie werden unter anderem für Kosmetik- und Lebensmittelpackungen verwendet. Problematisch ist, dass die Plastikhormone chemisch nicht fest im Material gebunden sind. So dünsten sie aus Plastikpackungen und Folien aus, können ausgewaschen werden oder verteilen sich durch Abrieb von Kunststoffpartikeln. Auf diese Weise landen die Plastikhormone dann im Essen.
Alles über Plastikhormone aus Nahrung und Umwelt: Hans-Ulrich Grimm. Die Kalorienlüge. Über die unheimlichen Dickmacher aus dem Supermarkt. Dr. Watson Books, 2. Auflage 2009