Chemie im Essen kann Ihre Gesundheit gefährden
 
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Die Coca-Kolonisierung der Welt
Globalisierung der Nahrung bedroht unsere Gesundheit
Von Hans-Ulrich Grimm
Lauren Rudolph war ein fröhliches, rothaariges Mädchen mit Sommersprossen. Sie war sechs Jahre alt, als sie starb. Todesursache war ein Hamburger, kontaminiert mit einem neuartigen Krankheitserreger. In den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts wurde er erstmals identifiziert, in Hamburgern von McDonald’s. Seither hat er sich weltweit verbreitet - sogar ins Trinkwasser in Deutschland.
Tödliche Hamburger: Buchautor Hans-Ulrich Grimm auf Recherche bei einer McDonald’s-Filiale in China.

Tödliche Hamburger: Buchautor Hans-Ulrich Grimm auf Recherche bei einer McDonald’s-Filiale in China.
© Lingli Wang
Sein Name klingt wie ein Geheimcode aus dem Science Fiction Film: E.coli 0157:H7. In Deutschland wurde er unter dem Kürzel EHEC bekannt (Enterohämorrhagische Escherichia coli: Kolibakterien, die Darmblutungen hervorrufen).

Die Krankheitswelle in Kalifornien, bei der die kleine Lauren starb, war der erste große Ausbruch dieser Art. Weitere folgten, in Amerika, in Asien. Auch in Deutschland gab es Todesfälle. Kinder starben in Großbritannien, in Schweden, in Norwegen. Todesursache dort: Rinderhackfleisch von Lidl. Und der Erreger wird nicht nur über Hack und Hamburger übertragen, sondern auch über Orangensaft, Apfelsaft, Milch, Gemüse, ja sogar über das Trinkwasser. Erst letzte Woche mussten deutsche Behörden vor EHEC-Bakterien warnen, in Käse aus einer nordrhein-westfälischen Hofkäserei, der in kleinen Läden in ganz Deutschland verkauft wurde.

Die weltweite Verbreitung der Bakterien ist eine Folge der Globalisierung der Nahrungsproduktion. Die Erreger aus den Food-Fabriken verbreiten sich in hohem Tempo rund um den Globus - es gibt keinen sicheren Winkel mehr.

»Die weite Verbreitung neuer Krankheitserreger wie EHEC in der Umwelt stellt ein Gefahrenpotenzial dar, das im Zusammenhang mit Trinkwasser als ernsthaftes Problem zu betrachten ist«, befand eine Untersuchung des bayerischen »GSF-Forschungszentrums für Umwelt und Gesundheit«. Peter Schindler vom »Bayerischen Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit« (LGL) meint, es herrsche sogar dringender Handlungsbedarf: »Gerade die schöne klare Bergquelle, aus der die Wanderer gern trinken, ist gefährdet.« Wenn in der Nähe eine Kuh steht, ist das Wasser bedroht.
Und es ist nicht nur die Kuh: »Die Rehe, die Hirsche, die Gemsen sind belastet, die Bakterien sind einfach überall, und sie breiten sich rasant aus.«
Von amerikanischen Hamburgern bis zu den bayerischen Bergbächen: Für die neuen Ernährungsrisiken gibt es im Zeitalter der Globalisierung und Industrialisierung keine Grenzen mehr.

Der Hamburger ist das Symbolprodukt dieser Form von Industrienahrung. Standardisiert, anonymisiert, weltweit verfügbar. Ursprung der Hamburger-Bakterien war, wie Studien ergaben, die artwidrige Fütterung der Rinder: getreidehaltiges Kraftfutter statt Gras. Das ist heute so üblich, da profitabler.

Untersuchungen der Europäischen Union zeigten, dass auch andere Krankheitserreger sich durch die Massentierhaltung ausbreiten: Die bekannten Salmonellen etwa, aber auch der weniger prominente Campylobacter. Der Stress in den Massenställen macht die Tiere empfindlicher, die Transporte sorgen für die weite Verbreitung der Erreger.

Bisher waren die Risiken lokal beschränkt. Doch jetzt konstatiert etwa das Schweizerische Bundesamt für Gesundheit (BAG): „In Folge des globalisierten Warenverkehrs steigt auch das Risiko internationaler Ausbrüche“.

Die Risiken verbreiten sich sozusagen hinter dem Rücken der Betroffenen. Auch den Behörden ist die Kontrolle längst entglitten.

Im Sommer 2009 rief der weltgrößte Nahrungshersteller Nestlé in den USA gekühlten Keks-Teig seiner Marke „Toll House“ zurück, weil Kunden mit schwersten Magen-Darm-Problemen ins Krankenhaus mussten; den Gesundheitsbehörden wurden 66 Fälle in 28 US-Bundesstaaten gemeldet. Nestlé warnte: „Kunden, die den Keksteig gekauft haben, sollten ihn nicht essen. Stattdessen raten wir den Verbrauchern dringend, die Produkte zu ihrem örtlichen Händler zurückzubringen“. Die US-Lebensmittelbehörde FDA (Food and Drug Administration) fand die Ursache heraus: Bakterien vom Typ E. coli 0157:H7.

Das Merkwürdige war nur: In der Nestlé-Fabrik wurden keine Erreger gefunden, was den Verdacht daraufhin auf die Zutaten lenkte. Es sei, meinte ein Branchendienst, ein „Mysterium“.

David Acheson, Spezialist der FDA für Lebensmittelsicherheit, mahnte die Nahrungsindustrie, „konstant wachsam zu sein, weil selbst Lebensmittel, die wir für wenig riskant halten, mit tödlichen Erregern kontaminiert sein können.“
Eigentlich sind Lebensmittel für die Globalisierung nicht geschaffen. Sie können auf langen Transporten verderben - oder sie müssen speziell für ein langes Leben in Supermärkten präpariert werden. Mit Farbstoffen, Geschmacksstoffen, Konservierungsstoffen.

Die Globalisierung der Nahrungsproduktion ist ein ständiger Kampf gegen die Natur.

Und er trifft immer häufiger auch den Menschen.
Neben akuten Gesundheitsschäden treten chronische Leiden auf. Allergien plagen immer mehr Kinder. Zugleich werden sie dicker und dicker. Psychische Probleme belasten Familien, Hyperaktivität und Lernstörungen die Jungen, die Alten leiden an Alzheimer und Parkinson. Zivilisationskrankheiten, wie Herzleiden, Krebs oder die Zuckerkrankheit Diabetes, verbreiten sich rund um den Globus - zusammen mit der Nahrung aus den Food-Fabriken.

Es gibt schon einen Fachausdruck für den Übergang von echter Nahrung zur Paralellwelt der Industrienahrung: „Nutrition Transition“ („Ernährungs-Übergang“). Der australische Diabetes-Experte Paul Zimmet spricht von der „Coca-Kolonisierung der Welt“.

Zum Beispiel auf Tonga, dem kleinen Insel-Königreich in der Südsee. In der Markthalle der Hauptstadt Nuku’alofa gibt es noch Kokosnüsse und Bananen, Karotten und Kartoffeln. Doch in den Läden liegen Produkte aus der Parallelwelt: die 2-Minuten-Nudeln von Maggi im Plastikpack, die lokale Version der 5-Minuten-Terrine. In den Supermärkten der Südsee sieht es aus wie bei Edeka oder Marktkauf. Es gibt Nutella. Es gibt „Pringles“-Kartoffelchips. Und an jeder Bushaltestelle prangt Werbung für Coca-Cola.

Die Folgen sind im Krankenhaus zu besichtigen. "Früher starben die Leute an Tuberkulose, Typhus und Unterernährung", sagt Dr. Malakai Ake, der dort Arzt ist und eng mit der Weltgesundheitsorganisation (WHO) kooperiert: "Heute haben wir uns neue Probleme geschaffen". Die vier "Top-Killers", die wichtigsten Todesursachen, in Tonga seien: Herzkrankheiten, Bluthochdruck, Diabetes, Krebs. Die Krankheitsraten stiegen parallel zu den Lebensmittelimporten, sagt der Doktor.

Die Kontrolle über die neuen Nahrungsmittel ist den Behörden völlig entglitten. Zwar gibt es in einem ordentlichen Königreich wie Tonga exakte Zahlen über die Importe: Sie stiegen allein bei den Instantnudeln von 1996 bis 2006 von 271 auf 664 Tonnen, bei den Snacks, Chips und dergleichen von 99 auf 341 Tonnen.

Welche künstlichen Zutaten das Volk damit verzehrt, entzieht sich indessen der Kenntnis der königlichen Verwaltung: "Über Zusatzstoffe wissen wir nicht viel", sagt der zuständige Gesundheitsbeamte.

Der kleine 100.000-Einwohner-Staat ist völlig außerstande, die ganzen Chemikalien zu kontrollieren, mit denen die Industrie ihre Produkte konserviert, künstlich mit Geschmack und Farbe versieht.

Das ist im großen Europa nicht viel anders.

Die Bundesrepublik Deutschland zum Beispiel müsste eigentlich nach einer EU-Vorgabe seit dem Jahr 1995 eine Statistik über den Verzehr von solchen Zusatzstoffen aufstellen. Schließlich sind sie nur in geringen Mengen unbedenklich. Gerade Kinder aber schlucken häufig mehr Chemie, als für sie gut ist - mit bunten Bonbons, Eis, Soft Drinks.

Doch die deutsche Bundesregierung sträubt sich hartnäckig, Erkenntnisse über den Zusatzstoff-Verzehr zu gewinnen.

Auch bei der sogenannten Nationalen Verzehrsstudie II im Jahr 2008 hat sie darauf verzichtet: Der Widerstand aus der Industrie war zu groß: Sie weigert sich, so klagen die zuständigen Behörden, Daten über die verwendeten Zusätze preiszugeben.

Die Industrie fürchtet Verbote und Verbrauchsbegrenzungen. Sie hat daher ihre Lobbybemühungen verstärkt, sehr erfolgreich, sehr gezielt, zum Beispiel dort, wo die Vorschriften erlassen werden, die weltweit für Lebensmittel gelten: Beim sogenannten „Codex Alimentarius“. Das Gremium der Vereinten Nationen ist sozusagen die Weltregierung in Sachen Lebensmittel, legt die weltweit gültigen Regeln und Vorschriften für Lebensmittel fest.

Wenn der Codex tagt, hat die Demokratie leider Pause. Über die weltweiten Regeln entscheiden Leute, die niemand gewählt hat und niemand kontrolliert: die Lobbyisten der Food-Multis.
Beispielsweise bei einem Treffen des „Codex Committee on Food Additives“ im Jahre 2008 in Peking. Es ging um Farbstoffe, Aromen, Geschmacksverstärker. Dicker Teppichboden, Strahler an der Decke, auf den Tischen Computer, die Anwesenden tragen Kopfhörer für die Simultanübersetzung. 262 Delegierte sind es insgesamt, aus 62 Nationen. Eigentlich sind nur die Abgesandten der Mitgliedsstaaten stimmberechtigt. Doch überraschenderweise sitzen auch Industrievertreter ganz offiziell mit am Tisch (Siehe DR. WATSON NEWS vom 24. April 2008).

In der deutschen Delegation zum Beispiel sitzt, zusammen mit drei Regierungsvertretern, ein Vertreter des Südzucker-Konzerns. Wenn der Zuckerlobbyist etwas sagen möchte, nimmt er einfach das Schild „Germany“ und spricht für Deutschland. In der Schweizer Delegation sind die zwei Regierungsvertreter sogar in der Minderheitsposition, gegenüber den fünf Industrievertretern, unter anderem vom Nahrungs-Multi Nestlé, dem Aromenproduzenten Givaudan, der Firma Ajinomoto, Weltmarktführer bei Glutamat. 2009 und 2010 war das ganz ähnlich.

Die Global Player der Food-Industrie haben erkannt, wie wichtig die weltweiten Regeln sind. Die Multis sind global organisiert und wissen sich durchzusetzen. Die Regierungen lassen sie gewähren und nehmen sie gleich in die Delegation mit auf.

Die Konsumenten sind leider etwas ins Hintertreffen geraten. Den Risiken der Globalisierung sind sie hilflos ausgeliefert. Schutz vor den Gefahren genießen sie nur unvollkommen, die Risiken müssen sie selbst begrenzen, sich informieren, gezielt auswählen.
Es müssen ja nicht die obskuren Sachen aus der industriellen Parallelwelt sein.

Es gibt ja auch noch das echte Essen, sogar mit exotischen Abwechslungen wie Mangos, Papayas und Kokosnüssen.

So hat die Globalisierung auch ihre schönen Seiten.

Buchtipp:
Hans-Ulrich Grimm: Tödliche Hamburger. Wie die Globalisierung der Nahrung unsere Gesundheit bedroht. Stuttgart: Hirzel Verlag 2010
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