Bisher galt als Hauptgefahr, neben Hautschäden bei höheren Dosen, das Krebsrisiko durch Dioxin. Doch auf Dauer wirken auch winzige Mengen, beispielsweise aufs Hormonsystem. Dies wurden in Studien aus den letzten Jahren nachgewiesen.
Vor allem bei Neugeborenen kann das Gift schon in geringen Dosen das Immunsystem stören. Dabei können andere Hormonchemikalien, etwa aus Plastik (im Fachjargon: „Endocrine disruptors“) die Effekte zusätzlich verstärken, wie japanische Wissenschaftler im Jahr 2009 herausfanden.
Schon eine einzige Dioxin-Dosis vor der Geburt kann auf diese Weise bei Ratten die Gehirnentwicklung stören, so eine Studie aus dem italienischen Bologna vom vorigen Jahr.
Je mehr Dioxin im Blut, desto höher das Risiko für die Zuckerkrankheit Diabetes, ergab eine Untersuchung unter Bewohnern einer dioxinverseuchten Region in Taiwan, ebenfalls im Jahr 2010.
Verschiedene Studien zeigten auch schädliche Auswirkungen auf die Schilddrüse, auf Spermaqualität und Fortpflanzungsfähigkeit.
Über zweihundert verschiedene Verbindungen des Ultragiftes kennt die Fachwelt. Am bekanntesten ist das sogenannte »Seveso-Dioxin«, von Chemikern als »2,3,7,8 Tetrachlordibenzodioxin«, oder kurz »2,3,7,8 TCDD« bezeichnet.
Bei der Dioxin-Katastrophe im norditalienischen Seveso im Jahre 1976 waren aus einer Fabrik des Chemie-Multis Hoffmann-La Roche 2,5 Kilogramm von dem Ultragift entwichen und hatten eine der größten Giftkatastrophen der Geschichte ausgelöst. Zweihundert Menschen erlitten schwerste Verätzungen, 700 Einwohner mussten ihre Häuser verlassen, 50000 Tiere mussten getötet werden, ein Gelände von 87 Hektar wurde evakuiert – auf unabsehbare Zeit.
Die Dioxin-Katastrophe von Seveso war zwar das bislang schlimmste, aber nicht das erste Unglück: 1949 gab es eines beim Agro-Konzern Monsanto, 1953 beim deutschen Chemie-Multi BASF. Damals litten vor allem die Beschäftigten unter Vergiftungen, Krebs und Hautkrankheiten.
Die allgemeine Belastung der Umwelt mit Dioxin war eigentlich seit Jahren rückläufig, auch bei der Muttermilch - bis das Tierfutter zur neuen Belastungsquelle wurde. Die verschlungenen Wege der kostengünstigen Tierfütterung in Zeiten der Globalisierung sorgte für völlig überraschende Kontainationsquellen.
Im Jahre 1998 war urplötzlich die Milch von Schwarzwälder Kühen mit Dioxin belastet. Ursache: Die Kühe bekamen statt Gras Kraftfutter von Raiffeisen - und das enthielt Zitruspellets aus Brasilien. Bei der Trocknung dieser Pellets, Abfallprodukten der Orangensaftproduktion, kam Kalk zum Einsatz. Der wiederum stammte aus einer Chemiefabrik, die zum Imperium des belgischen Chemiemultis Solvay gehört, einer der größten Chemiekonzerne weltweit.
Die Futtermittelimporteure reagierten damals überrascht. »Das hat es in den letzten 30 Jahren nicht gegeben«, sagte Klaus Schumacher, Manager beim Handelshaus Alfred Toepfer International in Hamburg. »Das war kein Vorsatz, das war ein Unfall, ein echter Unfall, und das wird nicht wieder vorkommen.«
Alfred Toepfer, eine Tochterfirma des US-Agromultis Archer Daniels Midland (ADM), ist mit 10 Milliarden Euro Umsatz eine respektable Instanz. Doch auch die größten Konzerne verlieren in der globalisierten Futterkette immer häufiger die Übersicht. Wenige Jahre später musste der Nahrungs-Multi Nestlé in seiner 5-Minuten-Terrinenfabrik im westfälischen Lüdinghausen nach der Herkunft seiner Geflügelfitzelchen in den Plastiknäpfen forschen. Grund: Dioxinverdacht. Drei Wochen dauerte die Suche nach Auskunft der Angestellten.
In den Geschäftsbeziehungen und Lieferketten verschwimmen irgendwann die Grenzen zwischen seriösen, angesehenen Unternehmen und dubiosen Produzenten.
Im Mittelpunkt gleich zweier Dioxin-Affären stand ein Mann namens Jan Verkest, Chef einer kleinen Fettschmelze und Zulieferer der Futterindustrie.
Schon 1999 kam es zu seiner ersten großen Dioxin Affäre: Jan Verkest war damals verhaftet worden. Zwei belgische Minister, Marcel Colla und Karel Prinxten, mussten zurücktreten. Zweihundert belgische Farmen wurden gesperrt, 60000 Schweine und sieben Millionen Hühner geschlachtet. Die belgische Ausfuhr brach zeitweilig fast vollständig zusammen. Auf eine Milliarde US-Dollar (760 Millionen Euro) wurde der Schaden durch unverkäufliche Agrarprodukte geschätzt.
Für Jan Verkest, den Inhaber der kleinen Fettschmelzerei, blieben die Skandale ohne erkennbare Folgen. Er hat auch nichts Verbotenes getan. Auch die anderen Beteiligten werden strafrechtlich nicht belangt. Niemand wurde zur Rechenschaft gezogen.
Nach dem ersten Dioxin-Fall im Jahre 1999 hatte Verkest seine Firma umbenannt, in »Profat«. Und löste bald wieder einen Dioxin-Skandal aus, mit Hilfe eines Zulieferers namens Tessenderlo, einem Kunstdünger-Giganten aus einem belgischen Ort gleichen Namens.
Der Konzern beschäftigt insgesamt achttausend Mitarbeiter in 22 Ländern, produziert eine Million Tonnen Sulfate pro Jahr, eine Million Tonnen Phosphate, aber auch andere Zusätze fürs Tierfutter. Dabei war, so ergaben die Ermittlungen, das Dioxin-Problem entstanden. Bei Tessenderlo Chemie waren zwei Filter in der Fettproduktion defekt. Sie werden für die Säuberung von Salzsäure gebraucht, mit der Fett von Schweineknochen gelöst wird. Durch diese defekten Filter nun gelangte das Dioxin ins Fett.
Verkests Firma Profat mischte das dioxinverseuchte Fett ins Viehfutter und streute dieses Problem durch Weiterverkauf über Europa. Ein kleiner Fehler in einer belgischen Firma, doch aufgrund der weitverzweigten Lieferbeziehungen der Agro- und Nahrungsindustrie war plötzlich fast die ganze Welt betroffen.
Niemand ist verantwortlich zu machen, selbst bei größten Skandalen. Zu diesem Ergebnis kam jedenfalls eine Untersuchungskommission des belgischen Parlaments schon in ihrem Abschlussbericht zum Dioxin-Skandal im März 2000: »Die Verantwortung liegt bei allen. Das ganze System hat versagt.«
Zu ähnlichen Schlussfolgerungen gelangte das Deutsche Ärzteblatt schon im Jahre 1999. Damals schon erörterte das Blatt die interessante Frage, warum die großen Tierfutterproduzenten einen Rohstoff wie Fett aus solch zwielichtigen Quellen beziehen. Und kam dabei zu dem Schluss, dass das Fett bei der »industrialisierten Massenproduktion« von Grillhähnchen und Schweinen vor allem einen Zweck habe: die Produktion zu verbilligen.
Die Verbraucher wüssten das eigentlich – und nähmen das hin: »Solange die Produktion reibungslos läuft, sind viele gerne bereit, über die etwas unangenehmen Details der Massentierzucht hinwegzusehen. Tritt ein Störfall ein, geht das nicht mehr so einfach. Denn der belgische Dioxin-Skandal macht eines deutlich: rasch ist das ganze System betroffen und der Schaden nur schwer zu begrenzen.«
Selbst die Bio-Branche ist betroffen - wenn sie sich auf die arbeitsteilige industrielle Produktionsweise mit ihren globalisierten Lieferketten einlässt: Im Frühjahr 2010 wurde dioxinbelasteter Bio-Mais entdeckt, der von der Ukraine in die affärenerprobten Niederlande geliefert und von dort in neun deutsche Bundesländer verteilt worden ist.
Die deutsche Verbraucherministerin Ilse Aigner (CSU) geriet auch damals in die Kritik - und wies sie zurück. "Es ist alles wunderbar gelaufen", sagte sie. "Ich habe erstens Initiativen vorgelegt und mich zweitens immer engstens mit EU-Verbraucherkommissar John Dalli abgestimmt." Mit einem Aktionsplan für mehr Sicherheit in Futtermitteln wollte die Ministerin sodann in die Offensive gehen.
So richtig erfolgreich war die Offensive dann allerdings nicht. Es dauerte keine neun Monate bis zum nächsten Skandal, jetzt zur Jahreswende.
Und auch nach Wochen weiß niemand, wie das Dioxin eigentlich ins Futterfett gelangt ist.
Ein System außer Kontrolle, aber so richtig aufräumen will da offenbar niemand – vermutlich weil alle Beteiligten letztlich von dem System profitieren. Das legt die Geschichte der heftigen aber kurzen Dioxin-Skandale nahe. Bald kehrt wieder Ruhe ein, die Geschäfte gehen weiter - bis zum nächsten Skandal.