Hyperaktive Kinder sind entweder extrem zappelig oder schauen Löcher in die Luft; sie vergessen schnell, verlieren häufig ihre Sachen; sie haben wenig Überblick und können sich nicht gut organisieren. In der Regel verschreiben Kinderärzte bei dieser Diagnose das Medikament Ritalin, das auf bislang ungeklärte Weise im Gehirn wirkt - mit unabsehbaren Langzeitwirkungen. Der Verbrauch der Aufmerksamkeitspille aus dem Hause des schweizerischen Pharmariesens Novartis stieg in den letzten Jahren extrem an: rund 34 Kilogramm vom Ritalinwirkstoff wurden im Jahr 1993 verabreicht, heute sind es jährlich 1,19 Tonnen.
Dass die Umstellung auf bessere Nahrung vergleichbare Effekte ohne Risiken und Nebenwirkungen bringen kann, bestätigte jetzt die Studie der holländischen Forscher, die im britischen Medizinerfachjournal The Lancet veröffentlicht wurde. Der Effekt war deutlich: Die Natur-Diät verbesserte das Verhalten merklich, doch wenn die Kinder wieder wie vorher aßen, fielen sie ins alte Verhaltensmuster zurück, wie das Forscherteam, herausfand.
Die Spezialisten für Kinder- und Jugendpsychatrie um Forschungsleiter Professor Jan Buitelaar von der Radboud Universität in Nijmegen, etwa 100 Kilometer südöstlich von Amsterdam, untersuchten die Reaktion auf normales, chemiefreies Essen an 100 hyperaktiven Kindern. Die jungen Teilnehmer wurden über Durchsagen in Kliniken und Gesundheitszentren sowie über Werbung in öffentlichen Medien für die Teilnahme gewonnen. Aus der Gruppe der aufmerksamkeitsgestörten Interessenten wurden dann die 100 Kinder im Alter zwischen vier und acht Jahren per Zufall ausgewählt. Die Hälfte der Kleinen bekam nun für fünf Wochen nur ausgewähltes Essen verordnet: Reis, Fleisch, Gemüse, Birnen und Wasser, dazu Kartoffeln, weitere Früchte und Weizen.
Eine Kontrollgruppe aß eine übliche mitteleuropäsche Kost, die nach offiziellen Empfehlungen als gesund und ausgewogen gilt. Diese Art Nahrung umfasst eine ausgewogene Mischung, auch aus dem Supermarkt, der ganzen Welt der Industrienahrung. Nach den Empfehlungen der zuständigen wissenschaftlichen Fachgesellschaften orientiert sie sich am Gehalt an Fett, Eiweiß, Kohlenhydraten und anderen Nährstoffen im Essen und kann auch Fruchtzwerge, Smarties, Nutella, bunte Soft Drinks und sogar Chips sowie Hamburger enthalten.
Ohne all dieses bessert sich das Verhalten: 78 Prozent der hyperaktiven Kinder reagierten auf die ausschließlich natürliche Diät mit Reis, Fleisch, Birnen und dergleichen mit besonnenerem Verhalten. Als in der zweiten Studienphase wieder die übliche gemischte Supermarkt-Kost verabreicht wurde, fielen 63 Prozent der Kinder in ihr vorheriges ADHS-Verhalten zurück. Obwohl als ausgewogen empfohlen, scheint sie also so ganz gesund nicht zu sein, diese Mischung.
Für die Forscher erstaunlich war, dass dieser Rückfall bislang nicht eindeutig auf bestimmte Inhaltstoffe der Nahrung zurückgeführt werden konnte. Denn welche Bestandteile des Essens die Aufmerksamkeit der Kinder beeinflussen, konnten die holländischen Wissenschaftler aus ihrem Experiment nicht ablesen.
Sie beschreiben Ihr Ergebnis dennoch als bedeutend und richtungsweisend: „Wir denken, dass eine Ernährungstherapie für alle Kinder mit ADHS in Betracht gezogen werden sollte,“ so die Autoren der Studie.
Zahlreiche andere Untersuchungen identifizierten bestimmte Inhaltsstoffe in der industriellen Nahrung als Auslöser von Hyperaktivität und Lernstörungen. So gaben Eltern häufig an, dass sich das Aufmerksamkeitsdefizit ihrer Kinder verschlechtere, wenn sie Zuckriges, oder Lebensmittel mit Farb- und anderen Zusatzstoffen essen.
Auch das National Institut of Mental Health im amerikanischen Bethesda im Bundesstaat Maryland, der weltweit größten Forschungsanstalt für psychische Störungen, räumt ein, dass es zumindest für die Farbstoffe ernstzunehmende wissenschaftliche Beweise gebe.
Insbesondere stehen synthetische Farbstoffe, wie zum Beispiel das gelbe
Tartrazin (E 102), im Verdacht, ADHS-Symptome wie Reizbarkeit, Unruhe und Schlafstörungen zu verursachen. Eine australische Studie
aus dem Jahr 1996 belegte diesen Effekt eindrucksvoll: Je höher die
Tartrazindosis, desto auffälliger waren die Symptome.
Auch eine Untersuchung der britischen Universität Southampton hatte Zusammenhänge zwischen Zusatzstoffen, namentlich Farbstoffen, und ADHS ergeben. Die europäische Lebensmittelsicherheitsbehörde Efsa hatte die Effekte zwar nicht akzeptieren wollen, gleichwohl müssen in Europa seit dem 20. Juli 2010 entsprechende farbstoffhaltige Produkte einen Warnhinweis tragen: „Kann Aktivität und Aufmerksamkeit von Kindern beeinträchtigen“.
Süßigkeiten haben ähnliche Effekte: »Zucker wirkt eindeutig als Auslöser und Verstärker von Überaktivitätsymptomen«, sagt der Kinderneurologe Professor Joseph Egger aus dem italienischen Meran. Er hatte für seine berühmt gewordene Studie, die schon 1982 im Fachblatt Lancet erschienen war, die kleinen Patienten mit einer eigens ausgetüftelten Diät gefüttert: ohne Tütensuppen, ohne Dosenravioli, Hamburger oder Fertigjoghurts. Ausgeschlossen wurden auch alle bekannten natürlichen Allergie-Auslöser wie Soja, Kuhmilch, Fisch.
Ergebnis: Bei 62 von 76 hyperaktiven Kindern verbesserte sich das
Verhalten deutlich.
Zahlreiche Studien belegen den Nutzen zusatzstofffreier Diäten bei Aufmerksamkeitsstörungen und Lernschwächen. Von 200 hyperaktiven Kindern etwa, die an der Abteilung für Kinderheilkunde der Universität im australischen Melbourne behandelt wurden, zeigten 150 eine Verhaltensverbesserung nach einer farbstoff freien Diät. Einer Studie aus Kanada zufolge reagierte die Hälfte von 24 hyperaktiven Vorschulbuben positiv auf eine Diät, die frei war von Farbstoffen, Schokolade, Glutamat, Konservierungsstoffen, Koffein und anderen Allergenen.
Die Erfolgsquote liegt bei vielen Diäten zwischen 70 bis 90 Prozent – und damit im gleichen Bereich wie bei chemischen Drogen, etwa Ritalin. Der Schweizerische Arbeitskreis Ernährung und Verhalten kam sogar auf eine Erfolgsquote von 94 Prozent.
Erfasst werden diese Aufmerksamkeits-Veränderungen üblicherweise über erprobte standardisierte Fragebögen, darin wird das Verhalten der Kinder von den Eltern und Experten systematisch beschrieben und erfasst. Ein Mangel an Objektivität in der Beurteilung von Verhalten war immer wieder Kritikpunkt an den bisherigen Erkenntnissen der Hyperaktivitätsforschung und aufgrunddessen galt der Nutzen zusatzstofffreien Essens lange als nicht belegt.
Siehe auch das Stichwort ADHS in: Hans-Ulrich Grimm. Die Ernährungsfalle.
Mehr zur Wirkung der Nahrung aufs Gehirn in: Hans-Ulrich Grimm. Die Ernährungslüge, jetzt in überarbeiteter Neuausgabe erschienen.